Entstehung der Soundsystems

4-5-2022  — 
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Entstehung der Soundsystems - Archiv Artikel

Schon vor über 20 Jahren habe ich einen Text über die Entstehung der Soundystems in Jamaika geschrieben. Inspiriert und gecoacht von meinen damaligen Mentoren Thomas und Gerhard, aka. Fred & Barney Soundsystem aus München wurde dieser Text von einigen anderen Seiten angefragt und er wurde mit Nennung meines damaligen Pseudonyms "sunOne" gerne geteilt. Schließlich landete er auf meinem damaligen Portal "Dread vs. Comb Edutainmant" und von dort aus gedruckt im "R-evolution Magazin". 

Nachdem ich den jüngst veröffentlichten Artikel von Tom-Oliver Regenauer und Nicolas Riedl aus dem Rubikon gelesen hatte "Die Weltsprache Hip Hop" und wieder dieses Feuer aufloderte, was offenbar auch besagte Autoren spürten bei ihrem Rückblick, begab ich mich auf die Suche in meine Festplatten-Archive, um den Soundsystem Artikel wieder hervor zu kramen. Dieser folgt nun in der Original-Fassung von damals und enthält keinerlei Bezüge zur jetzigen Zeit. Das Fazit könnte aber ähnlich ausfallen wie im Artikel der Rubikon Autoren, denn auch im Reggae oder Dancehall Reggae sind Parallelen zum Hip Hop Geschehen zu sehen, die der Kultur nicht unbedingt weiter geholfen haben. Auch hier wurde Auto Tune exzessiv eingesetzt und die Riddims verwässert und immer technoider und poppiger.

Die Beliebigkeit der Tunes wurde durch die Menge an gevoicten Riddims gefördert und es ist scheinbar, wie es meistens ist: Man schwelgt in Erinnerungen, die einem die besten Zeiten immer wieder vor Augen halten, weil man damit Gefühle und Begebenheiten in Verbindung bringt, und somit das Neue nicht mehr an die damalige Qualität ran kommt. Die Pionierzeiten sind vorbei. Es wird nur noch der hundertste Aufguss des Alten gemacht.

Streaming Plattformen geben einem nicht mehr das Gefühl der Haptik einer 7" aus Vinyl und dem Klang dieses Tonträgers zurück, können aber helfen den Vibe einzufangen, den man damals hatte, wenn man eine Playlist zusammen stellt, die diese Tunes beinhalten. Auch neue Songs kann man finden, weil es nach wie vor neue und alte Künstler gibt, die eben jetzt auf Spotify veröffentlichen. Und vor allem kann man dank des Algorithmus doch noch den ein oder anderen Newcomer entdecken, der einen mit seinem Sound überrascht. Sei es im Reggae oder Hip Hop.

Aber nun zum Artikel, der damals von der gesamten Reggae Community in Deutschland gelesen wurde und als erste Information diente, wenn man sich für diese Szene interessiert hat.

Entstehung der Soundsystems

„Selecta, now wheel up! Ease and come again!“ Ein Spruch, der beschreibend für eine gute Stimmung, mit einer guten Partycrowd, einem fetten Hit und einem noch fetteren Soundsystem steht.

Doch zunächst fragen wir, was ist ein Soundsystem? Ein Soundsystem, oder einfacher Sound oder Set, ist was man hier als mobile Diskothek verstehen kann. Mit dem Unterschied, daß ein Reggae Soundsystem mehr aufweisen muss, als einen DJ oder CD Einleger mit den letzten Hits vom Media Markt.

Eine Soundsystem Kultur wie sie in Jamaika existiert, sucht natürlich weltweit seinesgleichen. Im Ursprungsland des Reggae ist diese Kultur schon seit mehr als 35 Jahren nicht mehr wegzudenken. Solange gibt es einen der berühmtesten Sounds - Killamanjaro. Zu einer Zeit in der Jamaikaner in die USA gehen, um dort zu arbeiten, um die Musik der dort bekannten R&B Künstler mit nach Hause zu bringen, tauchen die ersten Selektors (bei uns bekannt als DJs) auf. Es sind gerade diese Jamaikaner, die ihre gekauften Scheiben an die Ohren des restlichen Volkes bringen wollen. Mit dem verdienten Geld kauft man sich ebenso Plattenspieler und das erforderliche Equipment um die Hits ordentlich präsentieren zu können. Hier entsteht schon das erste Konkurrenzdenken in Bezug auf die neuesten und heißesten Platten, die sich nur die leisten konnten, die in Amerika Arbeit hatten. Doch auch dieser Zustand erfährt eine Bremsung durch den Abbau ausländischer Arbeitskräfte in den USA und die jamaikanischen Discjockeys müssen, um nicht ihre mühevoll aufgebaute Karriere zu gefährden, auf neue Möglichkeiten zurückgreifen. So neu sind diese natürlich nicht, da es auf der Insel an jeder Straßenecke Talente gibt, die den amerikanischen Musikern in nichts nachstehen. Man reagiert schnell und produziert eigene Leute, die dann über die Defizite hinweg trösten sollen. Damit ist der Grundstein für die unendliche, nicht abebben wollende Welle von jamaikanischen Produktionen, bis zur heutigen Zeit gelegt. Es ist nicht so, als gäbe es noch keine Musik, so dass amerikanische Acts gefeatured werden müssten, aber die Plattenindustrie entsteht erst durch dieses „Loch“ in der Einfuhr von R&B-Scheiben. Der Ska ist die erste Form der jamaikanischen Musik, die sich aus der Mischung traditioneller und neuer Stile auf Schallplatten etabliert. Aus dem Ska entsteht der Rock Steady und schließlich der Reggae.

Die stolzen Besitzer eines Soundsystems bauen ihre Anlage aus und auch die Zahl der aktiv Beteiligten steigt, da man den größtmöglichen Hype erzeugen will. Die DJs, also Selectors, konzentrieren sich auf ihre Auswahl an Hits und ein Mic Chatter (MC) heizt durch gezielte Reim- und Singparts die Partypeople in den „Bridgeparts“ und Übergängen zum nächsten Lied an. Das zieht so gut, daß sie über gesamte Instrumentals, die sogenannten Versions, chatten, also reimen. (Hier sollten jetzt die Hip Hop Leute aufmerksam werden, denn der zündende Funke für ihre Kultur kommt nunmal aus Jamaika!) Das ist die Vorstufe des uns seit den 80ern bekannten Dancehall-Reggae.

Ein Soundsystem besteht in der Vollversion aus einem Selector, einem MC, einem Besitzer, oder Promoter, Technikern, Box Boys, Equipment und den Schallplatten. Natürlich spielen die Fans auch eine große Rolle, da diese meist in Gruppen organisiert ihrem favorisiertem Sound folgen und ihn lauthals unterstützen.

Der Selector hat die verantwortungsvolle Aufgabe alle Plattentitel, vom Stil bis zum Künstler, bis zum Platz in der Plattenkiste, auswendig zu kennen, schnell zu agieren und wenn möglich immer den richtigen Tune parat zu haben. Er muss sich auf die Bedürfnisse der Leute und deren Stimmung einstellen, bzw. diese selbst erzeugen, indem er die Platten in der kickenden Variation und Reihenfolge spielt. Er muss, um als guter Selector anerkannt zu sein, die Songs richtig mischen können, so dass ein Fluß entsteht, bei dem die Leute weitertanzen können. Er kann sich aber auch nur auf das Auswählen der Tunes beschränken und einen extra Mixer (einen Mixman, den eigentlichen DJ) an die Plattenspieler stellen, der diesen Part für ihn übernimmt und mit ihm zusammen den Auftritt bestreiten.

Der MC (Emcee), auch Mic Chatter, ist die stimmliche Unterstützung des Selectors. Er ist verantwortlich die Songs anzusagen und das Partyvolk anzustacheln. Er baut diesen energiegeladenen Vibe analog zu den Songs mit auf und animiert die Leute mitzusingen, oder den Tune, bei dem am meisten abgeht, vom Anfang zu spielen. Das ist der sogenannte „Wheel“ oder „Forward“, bei dem die Platte zurückgedreht und von Anfang läuft, nachdem die Dancehall-Crowd lautstark, meist mit Trillerpfeifen, Tröten und sonstigen Utensilien, ihren Gefallen an dem gerade gespielten Stück ausdrückt. Oft geschieht das mehrere Male mit dem selben Tune. Der MC reißt auch mal Witze am Mikro und macht bei Soundclashes (zwei Sounds gegeneinander) die Besetzung des anderen Sounds lächerlich. Auch hat er die Aufgabe Veranstaltungshinweise durchzusagen.

Der Promoter, der nicht zwangsläufig Besitzer des Sounds sein muss aber oft ist, kümmert sich um die Auftrittsmöglichkeiten und Dates und Locations für seinen Sound. Er verhandelt Booking-Verträge und verwaltet die Gagen.

Die Techniker sind verantwortlich für den gesamten Sound, von der Verkabelung bis zur Wartung. Mit den „Box Boys“, die Jungs, die die gesamte Anlage transportieren, ausladen, tragen und aufbauen, bringen sie das Equipment auf den höchstmöglichen Level.

Die Fans, oder sogenannten Sound Followers, sind die Kirsche auf der Sahne eines Soundsystems. Sie sind oft weitaus mehr als nur Fans; sie organisieren sich in Crews, die ihren auserkorenen Sound auf jedem Auftritt repräsentieren. Sie handeln mit Kassetten des Soundsystems und fallen durch bestimmte Tänze oder Klamotten auf. Eine bekannte Crew oder auch Massive genannt, des berühmten Stone Love Movement Soundsystems aus Jamaika, ist die Black Roses Crew, mit dem bekannten Tänzer Bogle, nachdem auch der gleichnamige Tanz benannt ist. Sie werden auf jeder Party und auf allen Mixtapes genannt und sind somit oft auch Synonym zu ihrem Sound.Vor allem in den sogenannten Soundclashes sind die Sound Followers von immenser Wichtigkeit.

Ein Soundclash ist ein Wettkampf zweier (oder mehr) konkurrierender Soundsystems, der nach gewissen Regeln abläuft. Die Sounds versuchen sich mit ihrem Equipment, günstigstenfalls bestehend aus Plattenspielern, Mischpult, Sampler, Effekten, Tapedecks, CD-Spielern, DAT Maschinen, Amplifiern, fetten Boxen, Subwoofern etc. und mit ihrer Auswahl an Tunes und Dubplates zu übertrumpfen. Dubplates sind extra angefertigte Einzelstücke (Schallplatten) meist aus Vinyl oder, mit einem Lack überzogenen, Metallplatten, die durch ihre Dicke aussehen wie Teller. Auf diesen Extraanfertigungen singen bekannte Künstler ihre Songs verändert und mit Nennung des jeweiligen Sounds, was natürlich Werbung und Aufwertung für denselben bedeutet. Je ausgefallener oder berühmter der Künstler, desto mehr Hype und Gewinnchancen bei einem Soundclash. Doch Dubplates sind nicht Alles.

Ein Sound muss ebenso durch die Fähigkeiten des Selectors und den, wie Pfeile treffenden Sprüchen des MCs, aufwarten können. Die gegnerischen Mitglieder eines Sets werden auch als Soundboys bezeichnet und die MCs heizen den Konkurrenzkampf mit Sprüchen wie: „Another soundbwoy fi dead“, oder „Kill a soundbwoy tonite“, an. Was nicht wörtlich genommen werden darf, da einen Sound töten oder Soundbwoy killen, nichts anderes bedeutet als seinen Konkurrenten zu besiegen. Der Soundclash fängt meist mit einem Warm up an, bei dem jeder Sound ca. eine Stunde abwechselnd spielt. Die jeweiligen Sound Followers checken die Lage ab und in dieser Phase wird noch stylisch abgetanzt.

Dann nach ein paar Stunden entwickelt sich die nächste Phase, nämlich die, bei dem sich die MCs mit Sprüchen und Toasting (jamaikanische Version des rappen) über Versions gegenseitig anstacheln und die Selectors schon mal die ersten Dubplates spielen. Die Spielzeiten, auch Segmente genannt, verkürzen sich im Laufe der Zeit und die gegenseitigen Attacken werden schärfer. Die Partyleute schreien, pfeifen, halten Feuerzeuge in die Luft und winken mit Tüchern für ihren Sound, oder gegen den anderen. Wenn ein Tune oder Dubplate eine sehr gute Wahl ist, schreien sie nach einem „Wheel“ oder wie gesagt „Forward“, um die Platte nochmal zu hören. Eine Bounty Killer Dubplate wurde sogar bis zu neun Mal gewheelt. Es reichen schon oft die ersten Takte eines bestimmten Tunes, um die Crowd völligst ausflippen zu lassen.

Der Höhepunkt findet dann im sogenannten „Dub fi Dub“ statt, wo sich der wahre Sieger herausstellt. Die Soundsystems dürfen jeweils abwechselnd nur noch einen Tune oder ein Dubplate spielen. Das gegnerische Set reagiert sozusagen auf den gerade gespielten Song mit einem darauf abzielenden besseren oder bekannteren oder lustigeren oder oder oder.....Song, der hauptsächlich das Ziel hat, den vorhergehenden zu übertrumpfen. Also die Antwort. Dieses Spiel wird „Counteraction“ genannt. Die Selectors und die MCs geben ihr Bestes, und später versucht der Stärkere dem Schwächeren alle Dubplates oder die besten Tunes herauszukitzeln, bis er keine mehr spielen kann.

Das bedeutet, „him run out of tunes“, und der Überlegene fragt nun die Crowd, ob der Andere verloren hätte (Him dead?). Falls „Nein“, dann geht es in eine zweite Runde Dub fi Dub, aber wenn die Leute „Ja“ schreien, spielt der Selector des Gewinner-Sounds den letzten Tune, den sogenannten Burialtune (Begräbnis-Stück) und gibt dem Verlierer-Sound zu verstehen, dass er soeben gekillt wurde. Auch hier kann es sein, dass es mal unentschieden endet, dann findet ein „Rematch“ statt. Nach einigen Diskreditierungen und Siegesverkündungen endet der Soundclash und die vorher vermeintlichen Feinde sind wieder Freunde, da dieser „Mord“ natürlich nur musikalisch stattfindet. (1999/2002/2007)

Dazu können auch folgende Tunes angehört werden:

Hoerma - Oldschool Tunes - Stenman aka. sunOne 2002

oder

Standpunkt - LeanSaturday Riddim - Stenman 2021

Möglicherweise werden hier bald auch ein paar alte Soundsystem Mixes von mir und den damalig involvierten Reggae Protagonisten in Archivform als Audio auf der Webseite erscheinen. Wenn diese ausgewählt und aufbereitet zur Verfügung stehen, wird es direkt angesagt.